Die traurige Geschichte des Islamismus

Februar 20, 2021

In den 90er Jahren veröffentlichte Oliver Roy sein Buch „Das Scheitern des politischen Islam“ und löste damit eine Diskussion aus. Auf die Anhänger des politischen Islam hatte die Diskussion wenig Wirkung, den in den Ländern, in denen sie noch nicht an der Macht waren, gewannen sie immer mehr an Einfluss.

Die AKP in der Türkei, die aus der Milli Görüş Bewegung entstand, ihre Entwicklung, ihre Erfolge und Misserfolge, der arabische Frühling sowie der Bürgerkrieg in Syrien zeigen, dass diese Diskussion hochaktuell ist.

Über Jahrhunderte waren die Muslime an der Spitze der Zivilisation und der Machtverhältnisse. So wie bei jeder Kultur ging es mit der Zeit Berg ab. Ein solche Erfahrung hatten die Muslime bis dahin nicht machen müssen. Mit dem Osmanischen Reich brach nicht nur ein Staat zusammen, sondern die gesamte muslimische Zivilisation, die in der Vergangenheit mit dem Selbstvertrauen die Vertreter der letzten göttlichen Religion zu sein agierte. Dem entsprechend war und ist die Verwirrung in muslimischen Köpfen groß.

Diese Krise in der muslimischen Kultur wurde zwar spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts erkannt, aber die Suche nach Lösungen führte zu heftigen Diskussionen, was zu geistigen Spaltungen führte.

Als geistige Wurzeln des politischen Islam können zwei Denker genannt werden, die genau in dieser Umbruchszeit gelebt haben: Dschamal ad-Din al-Afghani (1838 – 1897) und Muhammad Abduh (1849 – 1905).

Die populärste religiöse Bewegung der letzten 150 Jahre ist m.E. der „politische Islam“. Ihre Symbolfiguren wie Hasan al-Banna, Seyyid Kutup, Maududi und Ali Schariati sind überall in der muslimischen Welt bekannt. Wohingegen Namen wie Said Nursi, der durchaus eine Alternative zum politischen Islam bietet, in muslimischen Gesellschaften kaum bekannt sind.

Um es auf eine einfache Formel zu bringen: Für die Vertreter des politischen Islam ist die Religion in erster Linie ein „politisches Regime“, das nur dadurch existieren und fortbestehen kann. Es gibt eine politische Ordnung, die der Islam vorschreibt und es ist die vorderste Aufgabe der Religion diese heilige Ordnung zu errichten. In dieser Logik ist der Prophet zugleich ein gesandter politischer Akteur zur Errichtung dieser finalen Ordnung. Somit rückt die Politik ins Zentrum der Religion. Das führt sogar soweit, dass Seyyid Kutup den ersten Teil des Glaubensbekenntnisses „La ilahe illallah“ in seinem Buch „Zeichen auf dem Weg“ als „Rebellion gegen die unislamische menschliche Autorität“ verstanden, gelehrt und damit Millionen von Muslimen beeinflusst hat. Der Koranvers 5/44 „Wer nicht nach dem waltet, was Allah (als Offenbarung) herabgesandt hat, das sind die Ungläubigen“ ist so zusagen der Hauptankerpunkt im Gedankengebäude des politischen Islam. Sieht man von den Ländern ab, die unter der Hegemonie des Kommunismus standen, finden sich in allen muslimischen Ländern, allen voran im Nahen Osten, Vertreter und Anhänger dieser Ideologie.

Trotz seiner langen Geschichte, seiner Popularität, seines Kampfes so wie seiner Erfahrungen an der Macht, gibt es paradoxerweise kein Land, in dem der politische Islam erfolgreich war. Obwohl einige Muslime den Islamismus als unverzichtbaren Teil ihres Glaubens betrachten, ist der politischer Islam eine Enttäuschung auf ganzer Linie.

Pakistan ist beispielweise ein Land, dass unter Terror, Tribalismus und Armut leidet. Inwiefern ein Iran der Mullahs eine Inspirationsquelle sein, vermag ich nicht sagen. Selbst Saudi-Arabien mit seinen Petro-Dollars ist weit entfernt von einem Muster-Staat für Islamisten.

Der größte Fehler der Fundamentalisten ist es, dass sie das wahre Wesen der Religion nicht unur verkannt haben, sie verzerren absichtlich die Inhalte religiöser Gebote.

Das wichtigste Problem der Islamisten sind die sozialpolitischen Begriffe und Werte der Freiheit, Gleichheit und Demokratie. Da diese Werte vom “feindlichen” Westen hervorgebracht wurden, befinden sich Islamisten in einem permanennten Kampf mit der Moderne und ihren Zeitgeist.

Den größten Schaden tragen wiederum die Muslime selbst, weil die Islamisten sie von ihren wahren Problem ablenken und damit verhindern, dass Muslime sich ihrer bitteren Situation bewusst werden. Islamisten haben die Fehler immer außerhalb ihrer selbst gesucht, im Westen, beim politischen Regime, bei der Führungselite, bei ausländischen Mächten oder bei den Besatzern. Diese Sichtweise fand bei großen Bevölkerungsteilen Widehall, die ohnehin nicht das Bedürfnis hatten, sich selbst und damit die gesellschaftlichen Verhältnisse zu reflektieren.

Wer die Probleme der Menschen verkennt kann ihnen auch nicht helfen. Weil Islamisten den Wert wahrer Bildung weder wertschätzen noch ihre Methoden kennen, konnten sie keine dauerhaften Lösungen finden. Ganz im Gegenteil, sie haben noch größere Probleme geschaffen.

Dass der Großteil der Propheten, deren Hauptaufgabe die Verkündigung des Glaubens war, hatten kein Interesse an der Politik, das lehrt uns die Religionsgeschichte. Die Wichtigkeit politischer Verhältnisse ist unbestreitbar, aber wäre die Politik im Zentrum des Glaubens, hätten sich die Propheten hauptsächlich damit beschäftigt.

Das Ziel der Religion ist ein Mensch, der das Leben und das Universum bergreift und entsprechend weise handeln kann. Said Nursi nannte die Religion des Islam eine “große Menschlichkeit”. Im Zentrum der Religion sollte daher der moralisch integer handelnde Mensch sein.

(Ein Gastbeitrag von Orhan Tarik, übersetzt aus dem Türkischen)

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