DÜSSELDORF. Eine neue Ära beginnt im Europaparlament. Zum ersten Mal erreichen die Volksparteien keine absolute Mehrheit. Die EVP bleibt jedoch stärkste Fraktion.Die Grünen, Liberalen und auch europakritische Parteien legen zu.
Im vorläufigen Wahlergebnis erreichen die Volksparteien EVP 179 Sitze und S&D 153. Beide verlieren Sitze (37 bzw. 32), sodass die verbliebenen 332 Sitze nicht mehr für eine absolute Mehrheit (376 Sitze) im 751 Sitze-fassenden Parlament ausreichen. Die Gewinner sind die liberale Fraktion mit einem Zuwachs von 69 Sitzen auf 105 Sitze. Die Grünen verzeichnen ebenfalls eine Steigerung von 52 Sitzen auf 69. Auch die europakritischen Parteien erhöhen ihren Anteil im Europaparlament. EU-weit lag die Wahlbeteiligung bei knapp über 50 Prozent. Es ist die höchste Beteiligung seit der Parlamentswahl 1994. Auch in Deutschland war mit rund 60 Prozent die Wahlbeteiligung sehr hoch.
Die Gewinner der deutschen Europawahl sind die Grünen die ihren Stimmanteil auf 20 Prozent verdoppeln konnten, während die große Koalition abermals Stimmen verliert. Die Union ging zwar als stärkste Kraft hervor, doch sank ihre Zustimmung um 7 Prozent auf 29. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer erklärte auf einer Pressekonferenz, dass es nicht gelungen sei „eigene Themen in den Mittelpunkt zu stellen.“ Hinsichtlich der Klimaschutzfrage wurde es versäumt, aus „einer Offensivposition heraus diese Debatte zu führen“ mit der Folge gerade bei Jungwählern „massiv verloren“ zu haben. Infolgedessen wurde eine interne Analyse hinsichtlich der Strategie im Netz und die Ausrichtung der Klimapolitik angekündigt. Auch die SPD zieht Konsequenzen aus den Wahlergebnissen. Am Montagabend kündigte Andrea Nahles an, nächste Woche ihre Position als Fraktionsvorsitzende zur Abstimmung zu stellen.
Den Grünen hingegen ist es bei dieser Wahl gelungen, viele junge Wähler zu mobilisieren. Bei den unter 30-Jährigen haben sie in Deutschland eine relative Mehrheit von 33 Prozent. In den öffentlich-rechtlichen Sendern bezeichnete der deutsche Spitzenkandidat Sven Giegold (Die Grünen) den Wahlerfolg seiner Partei als „Sunday for Future“ und spielte damit auf die Umweltbewegung „Fridays for Future“ an, die vor allem junge Menschen mobilisiert. Das weibliche Pendant Ska Keller (Die Grünen) konstatierte bei einer Rede im EU-Parlament, dass „die Grüne Welle“ ganz Europa erfasst habe und dankte all denen, die für den Klimawandel gestimmt haben. Jedoch spiele die grünen Parteien in Süd- und Osteuropa eine eher untergeordnete Rolle. Dieser Umstand erkläre den geringen Anteil von 69 Sitzen im EU-Parlament.
Die liberale Fraktion (von 69 auf 105 Sitze) scheint durch die Teilnahme der Partei Macrons zu profitieren. Die in den letzten Europawahlen noch nicht existierende Partei sicherte sich auf Anhieb knapp 20 Prozent der Stimmen in Frankreich. Da Frankreich die zweitmeisten Abgeordneten im europäischen Parlament stellt, macht sich der hohe Anteil der französischen Liberalen im Europaparlament bemerkbar.
Auffällig ist auch das teilweise starke Abschneiden der europakritischen Parteien in einigen Ländern, vor allem aus den rechten Parteienspektrum. Die Lega-Nord in Italien und die griechische rechtsextreme Partei „Goldene Morgenröte“ haben eine relative Mehrheit erreicht. Orbans FIDESZ erreicht wieder die absolute Mehrheit. Die Partei Rassemblement National von Marine Le Pen konnte wie fünf Jahre zuvor ebenfalls die meisten Stimmen für sich gewinnen. Auch die FPÖ bleibt nach dem Skandal um das sogenannte Ibiza-Video und dem folgendem Koalitionsbruch überraschend stabil. Die Brexit Partei von Nigel Farage erreicht knapp ein Drittel aller Stimmen, wobei diese mit dem Austritt der EU obsolet werden.
Jedoch wird die Europawahl oft als Sekundarwahl wahrgenommen und zur Protestwahl genutzt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Protestparteien bei Europawahlen oft besser abschneiden. Ein allgemeiner Trend kann aber nicht ausgeschlossen werden.
Jedoch ist durch die Stärkung der Fraktionen am äußeren Rand der Stimmanteil in der Mitte geringer. Des Weiteren erfordern die hohe Anzahl der Fraktionen, die erhöhte Streuung der Stimmen und die Ablehnung der Kooperation mit extremen Parteien eine breite Koalition in der schmalen Mitte. Damit dürfte die Koalitionsbildung zur Bestimmung des neuen Kommissionspräsidenten komplizierter werden.
Koalitionsverhandlungen sind eröffnet
Während zuvor die bequeme Mehrheit von EVP und S&P für Beschlüsse ausreichte, werden sich nach der neuen Sitzverteilung andere Mehrheiten finden müssen. Sollten die Volksparteien zusammenarbeiten wollen, ist eine Dreier-Koalition mit den Grünen oder den Liberalen erforderlich. Eine Koalition, ohne eine der jeweiligen „Volksparteien“, müsste eine größere Allianz schmieden, da die Konstellation der Stimmanteile keine alternative Dreier-Koalition hergeben.
Als der Spitzenkandidat der EVP Manfred Weber zum späten Abend auf der Bühne im EU-Parlament „von einem großen Sieg für die europäische Demokratie“ spricht, bezieht er sich zunächst auf die hohe Wahlbeteiligung.
Angesichts der Verluste für seine Fraktion und der „Großen Koalition“ betonte er, dass Stabilität jetzt das entscheidende sei und durchblicken ließe, dass eine Zusammenarbeit mit seiner Fraktion eine Voraussetzung dafür ist. Allerdings betonte er, dass die EVP nur einen Kandidaten wählt, der sich im Wahlkampf mit „Programm, Profil und Persönlichkeit“ zum Spitzenkandidatenmodell bekannt hat.
Dabei erhofft er sich die Unterstützung der Sozialdemokraten und einem weiteren Partner. Eine Zusammenarbeit mit Fraktionen, die europakritische und extreme Neigungen haben, lehnt er kategorisch ab.
Eine Partnerschaft mit den Liberalen scheint schwierig, da die liberale EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager (ALDE&R) eigene Ambitionen zur Kommissionspräsidentin keineswegs ausschlossen hat und Weber schon konstatierte, dass er Vestager, als „nicht bekennende Spitzenkandidatin“ nicht unterstützen wolle. Darüber hinaus sprach sich Macron als Teil der liberalen Fraktion mehrfach gegen Weber aus.
Frans Timmermans, Spitzenkandidat der S&D, konterte, dass Stabilität im Sinne Webers, nur eine Koalition mit seiner EVP und folglich Stillstand heiße. Er könne sich alternativ ein Bündnis mit den Liberalen, Grünen und der linken Fraktion vorstellen, und wolle sich auf Inhalte fokussieren. Jedoch hat dieses Bündnis keine Mehrheit im Parlament.
Auch die Grüne-Fraktion will bei den Inhalten bleiben. In diesen sind sie sich nicht unähnlich, denn beide beanspruchen Themen wie Klimaschutz, soziale und Steuergerechtigkeit. Weiter sagte der niederländische Spitzenkandidat der Grünen Bas Eickhout, dass „Wir uns für Leute aussprechen, die ganz klar vor der Wahl im Rennen waren.“ Damit spielt er, wie Weber (EVP) auf die Rolle von Margrethe Vestager (ALDE&R) an, sich nicht als Spitzenkandidatin dargestellt zu haben. Zumindest bleibt die Frage offen, wie sich die EVP und die Grünen inhaltlich einig werden.
Aus der Perspektive Timmermans (S&D) und Vestager (ALDE&R) dürfte es schwierig sein, ein Mehrheitsbündnis ohne die EVP zu bilden. Dafür müssten die Liberalen und auch die linken Kräfte in einigen Politikbereichen im Einklang gebracht werden. Außerdem würde Timmermans aufgrund der eigenen relativen Mehrheit den Kommissionsposten für sich beanspruchen wollen.
Anhand der ersten Aussagen der Kandidaten und der Stimmverteilung der Fraktionen scheint Szenario einer großen Koalition zusammen mit den Grünen am wahrscheinlichsten zu sein, wobei die Liberalen eine potenzielle Alternative bleiben.
Die vertraglichen Vorgaben des Lissaboner Vertrags sehen zur Wahl des Kommissionspräsidenten nach Art. 17 (7) EUV folgendes vor:
Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor.
Daraufhin wählt das Europäische Parlament diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.
Im weiteren Verlauf des Benennungsverfahren erteilt das Parlament neben dem europäischen Rat das Kommissionskollegium die Zustimmung.
Außerdem werden die Posten des Präsidenten der EZB, des Europäischen Rates und des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt.
Für den Vorschlag ist die Berücksichtigung des Wahlsiegers für den europäischen Rat nicht verpflichtend. Daher wird Weber am Dienstagabend bei einem informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs alle Ressourcen mobilisiert haben, um diese zu überzeugen, dass er eine Mehrheit bilden kann und das EU-Parlament nur einen „erklärten Spitzenkandidaten“ akzeptieren wird. Am Diensttag bestätigten die Fraktionschefs im Parlament an bestehende Beschlüsse festzuhalten, in dem das Spitzenkandidatenmodell unabdingbar und eine Voraussetzung zur Wahl zum Kommissionspräsidenten sei.
Mit der Unterstützung der Bundeskanzlerin und den weiteren 7 konservativen Regierungschefs kann er rechnen. Jedoch beschließt der Europäische Rat mit einer qualifizierten Mehrheit von 21 Staaten, wovon er weit entfernt ist.
Nach dem abendlichen Treffen sagte der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, dass er nach den vorangegangen Gesprächen optimistisch sei. Er wies jedoch darauf hin, dass der Sieger bei der Spitzenkandidatenwahl nicht „automatisch“ vom Rat als Kommissionspräsident vorgeschlagen werde. „Es erhöhe lediglich die Chancen“ führte er fort. Über die Nominierung besteht somit keine Klarheit und hinsichtlich weiterer Posten „die es unter der Berücksichtigung von Parteizugehörigkeit, Größe und Herkunft der Heimatländer sowie Genderaspekte zu besetzen gilt“, wird es „ein politischer Balanceakt.“
Emanuel Macron, als selbsterklärter Gegner des Spitzkandidatenmodell, wäre eine Nominierung Vestagers genehm. Pascal Canfin, enger Vertrauter Macrons, sagte dem Radiosender France Inter, dass Weber sich disqualifiziert habe, da er sogar in Deutschland Verluste erlitten hätte.
Bereits Dienstagmittag traf sich Macron mit führenden Sozialdemokraten und Liberalen aus Europa, um Chancen gegen eine Nominierung Webers auszuloten. Darunter waren die liberalen Ministerpräsidenten Mark Rutte (Niederlande) und Charles Michel (Belgien), und die Sozialdemokratischen Regierungschefs Pedro Sanchez (Spanien) und Antonio Costa (Portugal). Zugleich suchte er das Gespräch mit den Regierungschefs der Visegrad-Staaten, die jedoch mit dem parteilosen Maros Sefcovic einen eigenen Kandidaten ins Gespräch bringen möchten.
Donald Tusk hat angekündigt, bis zum Gipfel am 21. und 22. Juni eine Einigkeit zu schaffen. Sollten sich die acht Konservativen Staatschef im Rat bis dahin übergangen fühlen, verfügen diese über eine Sperrminorität, sodass die für die qualifizierte Mehrheit benötigten 21 Zusagen nicht erreicht werden. Dann würde die Nominierung aufgeschoben werden. Angesichts dieser Konstellationen scheint eine Einigung im Rat schwierig zu sein.
Abgesehen von der Wahl des Kommissionspräsidenten, beeinflusst die neue Sitzverteilung die Arbeit im Parlament nachhaltig. Die „große Koalition“ kann sich nicht mehr auf ihre Mehrheit bei Beschlüssen im OGV (Ordentliches Gesetzgebungsverfahren) und Haushaltsfragen stützen. Bisher war die Stimmmehrheit der Volksparteien für einen erheblichen Anteil der Beschlüsse im EU- Parlament ausschlaggebend. Jetzt benötigen sie Unterstützung von anderen Fraktionen, diese wiederum auf Zugeständnisse hoffen können. Diesbezüglich sagte Ska Keller (Grüne/EFA) im ZDF heute-journal, als kleine Partei „jetzt schon am Hebel zu sein“ und erinnerte an „ständig wechselnde Mehrheiten“, die es ermöglichen, bei „der Umsetzung von Gesetzgebungsvorhaben“ auch grüne Interessen durchzusetzen.
Im politischen System der EU geht keine Regierung im eigentlichen Sinne aus dem EU- Parlament hervor. Die Kommission fungiert auf Basis des EUV Art. 17 (3) als technokratisches Organ, dass nicht parteipolitisch agieren darf. Demnach handelt es sich nicht um ein parlamentarisches Regierungssystem mit einer festen Einteilung in Regierung und Opposition.
Dadurch agieren Parteien unabhängiger, sodass die ihre Verhandlungspositionen vor allem in den Ausschüssen flexibler sind. Damit sind wechselnde Mehrheiten möglich. Ohne die Mehrheit der großen Koalition, werden bei zukünftigen Beschlüssen im EU-Parlament die kleineren Fraktionen, versuchen mehr Einfluss zu nehmen. Andererseits dürfte es schwieriger werden übereinstimmende Positionen zwischen den unterschiedlichen Fraktionen zu finden, um beschlussfähige Mehrheiten zu erreichen.