Die Rechtspopulisten sind in ganz Europa auf dem Vormarsch. Viele Experten befürchten das Auseinanderdriften der Gesellschaft. Einige geben sogar zu bedenken, dass unsere Debattenkultur sich verändert habe. Die multimediale Vermittlung von Ereignissen und die damit einhergehende Debatte um Fake-News bringt die Gefahr mit sich, dass jede soziale Gruppe ihre eigene Wahrheit zu haben scheint. Auf einer solchen Grundlage kann man kaum einen sachlichen Austausch führen. Um Lösungsansätze für dieses Problem zu finden sollte man vielleicht danach fragen, wie es dazu kommen konnte. Ich möchte versuchen, eine Erklärung zu finden:
Wenn man das Jahr 1960 als das Jahr vom Beginn der Arbeitsmigration nach Deutschland bestimmt, dann kann man getrost von ca. 70 Jahre Anwesenheit von Migranten in Deutschland ausgehen. Wenn sogar ein deutscher Fußballweltmeister mit türkischem Migrationshintergrund von Rassismus spricht, muss die Frage der Akzeptanz von erfolgreicher Integration seitens Deutscher ohne Migrationshintergrund, wie diese auch bestimmt wird oder nicht, erlaubt sein. Aktuell kursieren viele Experten, wirkliche und vermeintliche, durch Talksendungen, veröffentlichen Bücher und versuchen so Einfluss auf die Diskussion zu üben oder die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Meines Erachtens kann man alle Experten reinen Gewissens in die Tonne kloppen, die die Schuld nur der einen Seite zuschieben wollen.
Es ist unbestreitbar, dass es sogar bei der dritten und der vierten Migrantengeneration Probleme gibt. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass diese Generation Nachkommen von Arbeitsmigranten sind, die man seiner Zeit angeworben hat, um den Industriestandort Deutschland aufzubauen. Ihre Eltern und Großeltern sind nicht in dieses Land gekommen, weil sie hier Schutz suchten oder zu Profiteuren des Sozialstaates gehören wollten, wobei ich diese Motive hier nicht bewerten möchte, denn diese Motive gehören zu einer ganz anderen, grundlegenden Diskussion. Die Arbeitsmigranten kamen, um nach einer Weile wieder in ihre Heimatländer zurückzukehren. Aber die meisten blieben und holten ihre Familien nach oder bauten sich hier eine neue Existenz auf. Die in Deutschland geborenen oder aufgewachsenen Migrantenkinder haben aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft eine Integrationsleistung vollbracht, die keiner ernsthaft bezweifeln kann. Dass sie immer noch in Sachen Bildung, Arbeit und Partizipation an der Gesellschaft Nachholbedarf haben ist unbestreitbar. Mehrheitlich aber fühlen sie sich Deutschland zugehörig. Allerdings stellt sich zugleich die Frage, ob die Mehrheitsgesellschaft das genauso sieht. Liest man Fachpublikation über Diskriminierungserfahrungen von Deutschen mit Migrationshintergrund und schaut sich mal die Postings unter dem Hashtag #MeTwo an, wird man feststellen, dass die Akzeptanz der Mehrheitsgesellschaft hinter den Erwartungen bleibt. Meines Erachtens ist genau an diesem Punkt anzusetzen:
Wo bleibt die Integrationsleistung der deutschen Mehrheitsgesellschaft?
Lange hat man geglaubt bzw. glaubt man immer noch: Wenn Migranten die deutsche Sprache lernen, Bildung erlangen, einen Beruf ergreifen und Arbeit finden, ergibt sich die Integration von selbst. Das Aufkommen des Rechtspopulismus ist nicht nur gegen die Flüchtlinge gerichtet, sondern gegen alles was als „nicht-deutsch“ gebrandmarkt wird ist. Also auch gegen die Migranten der dritten und vierten Generation, die eher in Deutschland heimisch sind als in den Herkunftsländern ihrer Eltern oder Großeltern. Ganz offensichtlich wird die Integrationsleistung nicht gebührend honoriert. Und dabei spreche ich nicht von materieller Bestätigung wie Vergütung. Sondern vielmehr von dem Gefühl der Zugehörigkeit, die die Migranten von der Mehrheitsgesellschaft vermittelt wissen wollen. Es ist überaus frustrierend festzustellen, das man nicht dazugehört, obwohl du dich sehr anstrengst kein Fremder zu sein bzw. zu bleiben. Der Andere zu sein, der abnorm ist und deswegen überdies als Gefahr betrachtet wird fördert nicht gerade das Gefühl dazu zu gehören. Aus der Sicht von Millionen Deutschen mit Migrationshintergrund, zu denen ich selbst gehöre, sollte die Frage erlaubt sein; Wo bleibt die Integrationsleistung der deutschen Mehrheitsgesellschaft?
Das heißt, dass die Beschäftigung von verschiedenen Lebensentwürfen, religiös, kulturell oder gar politisch geprägt, schon im Kindergarten anfangen und durch das ganze Bildungssystem hindurch gelebt werden muss.
Zur Verdeutlichung meiner Position: Wenn die Integration eine Interaktion zweier Volksgruppen bedeutet, wo auf der einen Seite die Zugewanderten aus allen Himmelsrichtungen und auf der anderen Seite „die Deutschen“ sind: Dann sollte doch Jedem klar sein, dass sie nur gelingen kann, wenn sich beide Seiten aufeinander zubewegen. Bei meinen ehrenamtlichen Bemühungen zum Dialog zwischen Christen und Muslimen hat ein evangelischer Pfarrer etwas gesagt, was mich sehr nachdenklich gestimmt hat. Er sagte sinngemäß: „Wir müssen endlich aufhören nebeneinander zu leben und sollten das Miteinander leben lernen“.
Was er gemeint hat will ich anhand der interkulturellen Pädagogik verdeutlichen: Die interkulturelle Pädagogik postuliert eine Beschäftigung mit Diversität bereits im Elementarbereich. Das heißt, dass die Beschäftigung von verschiedenen Lebensentwürfen, religiös, kulturell oder gar politisch geprägt, schon im Kindergarten anfangen und durch das ganze Bildungssystem hindurch gelebt werden muss. Allerdings braucht sie dafür Fachpersonal, das dementsprechend ausgebildet und eingesetzt wird. Hierfür ist wiederum der Wille der Politik gefragt.
We must live together as brothers or perish together as fools.
– Martin L. King –
Um den Kreis meines Gedankenganges zu schließen: Migrantische Deutsche (wenn denn diese Formulierung politisch korrekt ist) sollten sich weiterhin bemühen Teil dieser Gesellschaft zu werden oder zu bleiben; sie sollten allerdings auch emanzipiert genug sein, eine Integrationsleistung von der Mehrheitsgesellschaft einzufordern. Nach einer sehr deutschen Logik heraus: Ich habe geliefert, habe mein Soll erfüllt und jetzt bist du an der Reihe. An meine deutschen Mitbürger mit deutschen Eltern und Großeltern möchte ich ebenfalls appellieren: Fragt euch wie sehr ihr eure Nachbarn, Kollegen, Freunde im Sportverein, usw. als zu Deutschland zugehörig ansieht und fragt euch bitte gleichzeitig, ob ihr ihnen dieses Gefühl auch vermitteln könnt.
Abschließen möchte ich mit den Worten von Martin Luther King:
„We must live together as brothers or perish together as fools.“
„Wir müssen lernen, als Brüder miteinander zu leben oder als Narren unterzugehen.“